Der Hüter des Teichs

Der Hüter des Teichs

Zentralafrika, aus: Nelson Mandela, Meine afrikanischen Lieblingsmärchen, dtv, 2010,
leicht bearbeitet von Gabi Thiel

In einem weit entfernten Land liegt ein großer See. An einem Ende hat er eine schmale Öffnung, durch die sich das Wasser zwängt, um sich von dort glucksend in die Ebene zu ergießen. Unablässig fließt es dahin, durch enge, steinübersäte Schluchten, über Klippen, durch braunes Erdreich und grüne Wiesen.

Tosend sucht sich der Fluss seinen Weg ins Tal, immer schneller, immer wilder, bis drei große Felsblöcke seinen Lauf aufhalten und das Wasser sich wie in einem Teich sammelt. Dadurch bildet sich ein großer Strudel, der alles verschlingt, was in seine Nähe kommt: die roten und goldenen Blätter, die von den Umsasa-Bäumen fallen, die Mücken, die über das Wasser flitzen, und die Schmetterlinge, die über den süß duftenden, weißen Blüten des Wasserkrauts am Rand des Teichs gaukeln.

Auf dem Grund des Strudels aber liegt ein großer, silberfarbener Wasserpython, den langen, glitzernden Körper zusammengerollt, seine Schlangenaugen blinzeln in die Sonnenstrahlen, die aufs Wasser fallen, seine Zunge züngelt vor und zurück – der schöne, schreckliche silberne Wasserpython ist der Hüter des Teichs.

Doch dies ist kein gewöhnlicher Python, denn seine kalte, nasse Haut zu berühren bedeutet Heilung: Heilung für alle Krankheiten und Schmerzen von Männern und Frauen, Heilung für alle, die den Mut besitzen, ihn in seiner Behausung auf dem Grund des Teichs zu besuchen.

Ngosa saß am Rand des Teichs und starrte in den tosenden Strudel. Die Sonne schien ihr auf die glatte, braune Haut und wärmte ihren zitternden Körper. Ihre Mutter war krank, sehr krank. Ngosa wusste, dass sie ihr Hilfe bringen musste, denn andernfalls würde ihre Mutter sterben. Doch die Vorstellung, in diese wilden Wasser hinabzutauchen, den silbernen Python zu berühren, ihm in die schwarzen Schlangenaugen zu blicken, sich dieser züngelnden Zunge zu nähern… Trotz der Hitze fröstelte es Ngosa. Sie hatte Angst.

Von unten aus dem Wasser starrte Python zu Ngosa hinauf; er sah, dass sie schön war, wusste, dass sie sich vor ihm fürchtete, und sehnte sich danach, ihr Mut zuzusprechen.

Ngosa hörte jemanden hinter sich schreien. Sie drehte sich um und sah ihre jüngere Schwester über die Felder herbeigeeilt kommen.
„Ngosa! Ngosa!“, rief sie. „Beeil dich, unsere Mutter stirbt gleich!“

Da stiegen viele Erinnerjungen in Ngosa auf – wie ihre Mutter sie beruhigt und ihr die ganze Nacht lang Wiegenlieder vorgesungen hatte, nachdem sie von Krokodil beinahe ins Wasser gezerrt worden war; wie ihre Mutter meilenweit gelaufen war, um die rote Rettichwurzel zu finden, mit der sie den schrecklichen Schmerz linderte, als Skorpion sie gestochen hatte; wie ihre Mutter den scheußlich behaarten Pavian verscheucht hatte, der ihren kleinen Bruder aus der Wiege rauben wollte; wie ihre Mutter stillschweigend ihre Portion Maisbrei mit den Kindern geteilt hatte, als die große Trockenheit über sie gekommen war und die Menschen verhungerten.

Ngosa sprang in den rasenden Strudel hinein.
Pythons Zunge schnellte nur einmal vor, dann blieb sie ruhig. Die schwarzen Schlangenaugen schlossen sich. Ngosa schwamm nach unten, streckte ihre Hand aus und streichelte seine kalte, nasse Haut. Dann ruderte sie mit Armen und Beinen wieder an die Wasseroberfläche und rannte durch die Felder nach Hause, um die heilende Kraft des Pythons durch eine Berührung auf ihre Mutter zu übertragen. Sie war gerade noch rechtzeitig gekommen.

In dieser Nacht, als der Mond blutrot über den Bergen stand, rollte Python seinen silbernen Körper auf und tauchte langsam empor. Dem Wasser des Teichs entstieg ein junger Mann. Seinen schönen, hoch erhobenen Kopf zierten hübsche schwarze Locken. Seine braunen Augen blickten furchtlos. Er hatte lange und kräftige Arme und Beine. Bestimmt war es der Sohn eines Häuptlings. So, wie es einst der erste Mensch getan hatte, blickte er um sich und sah, dass die Erde gut war.

Er durchschritt die Felder und kam zu einem Halbkreis von Hütten. Im Gehege käuten die Rinder friedlich wieder, ihr schwarzweißes Fell glänzte schimmernd im Mondlicht. Eine Ziege leckte ihr Junges ab.

„Ngosa“, rief er sanft. „Ngosa, dein Mut hat mich gerettet. Als die Wasserhexe mich in eine Schlange verzauberte, sank ich auf den Grund des Teichs hinab. Seitdem muss ich für alle Zeiten den Strudel tagsüber bewachen. Doch weil du den Mut besessen hast, darf ich jetzt des Nachts wieder in meine menschliche Gestalt schlüpfen. Nachts darf ich mich denen zeigen, die mutig sind und schön. Mutig bist du gewiss, denn du hast dich zu mir in meiner Pythongestalt gewagt, und dass du schön bist, sehe ich mit eigenen Augen. Komm.“

Ngosa war aus ihrer Hütte getreten, und der Sohn des Häuptlings legte ihr ein Kollier aus milchigen, blaugrünen Mondsteinen um den Hals, die auf einer Schnur aus silbrigem Mondlicht aufgereiht waren.

Fortan verbringt Ngosa ihre Tage am Rande des Teichs und spielt auf ihrem Saiten-Instrument (Ugubhu Einsaitiger Musikbogen mit einer Kalebasse als Klangkörper) liebliche Weisen, denn Pythons lieben die Musik der Menschen.

Nachts aber legt sie ihr Mondstein-Kollier an und wartet darauf, dass der Sohn des Häuptlings dem Wasser entsteigt.